Liebe Niederbayern,
Auswanderung, Flucht und Vertreibung sind Menschheitsthemen seit Millionen Jahren. Schon Adam und Eva sind aus dem Paradies vertrieben worden. Und Jesus hat seine ersten Lebensjahre als Flüchtlingskind in Ägypten zugebracht. Glaubt man dem Evangelisten Matthäus, so sind Maria und Josef mit dem Säugling in einer Nacht- und Nebelaktion in das damals für sie heidnische Ägypten geflohen.
Noch bis ins vergangene Jahrhundert sind Deutsche, darunter auch Niederbayern aus dem Bayerischen Wald, nach Amerika ausgewandert. Besonders glücklich sind viele von ihnen dort nicht geworden, so hat es jedenfalls Emerenz Meier aus Chicago ihrer niederbayerischen Freundin geschrieben. Zu fremd waren Sprache und Sitten auch für die Dichterin aus dem Bayerischen Wald.
Sprache ist Schlüssel zur Integration. Das weiß heute jeder. Und doch haben unsere Auswanderer zunächst gar nicht daran gedacht, die fremde englische Sprache zu erlernen. In deutschen Wohnsiedlungen haben sie ganz selbstverständlich weiter Deutsch, Bayrisch oder Niederbayrisch gesprochen. Englisch haben sie erst gelernt, als man ihnen das Bier genommen hat. Sie mussten Englisch sprechen lernen, um mitmischen zu können in der Politik und ein Gesetz zu ändern, das ihnen damals in Chicago den sonntäglichen Bierausschank im deutschen Biergarten verboten hat.
Vertriebene, Flüchtlinge und Auswanderer haben zu allen Zeiten und überall auf der Welt Einheimischen Angst gemacht. Über Angst muss man sprechen dürfen, wenn sie nicht krank machen soll. Es ist gut, dass es mittlerweile an den niederbayerischen Grenzen geordnet zugeht, dass kaum jemand mehr drängt und schubst, der ins Land kommen will. Doch wohin sollen all die Menschen am Ende ziehen, wenn sie bleiben dürfen in unserem Land? Werden die Einheimischen dann noch Wohnungen finden? Schon jetzt gibt es Unternehmer, Gemeinden und Wohnbaugesellschaften, die bezahlbare Wohnungen bauen für Einheimische und Fremde, die in Niederbayern bleiben. Ein großes Dankeschön an alle, die sich hier engagieren.
Doch es bleibt die andere große Frage: Wird es gelingen mit der Integration, wenn so viele Menschen aus ganz anderen Kulturkreisen, mit ganz anderen religiösen Traditionen und mit ganz anderen Sprachen in so großen Gruppen zu uns nach Niederbayern kommen? Das fragen sich in Niederbayern neben vielen Bürgerinnen und Bürger auch die Landräte und Bürgermeister.
Integration wird oft auch an der Bekleidung gemessen. Besonders für Frauen gibt es bis in die heutige Zeit oft starre Bekleidungsvorschriften. Was sich schickt für die Frau und was sie auf keinen Fall tragen darf, das haben oft Männer für sie entschieden. Mit knöchellangen Kleidern und Hauben auf dem Kopf mussten deutsche Frauen in Amerika auf die Straße gehen, während viele Amerikanerinnen schon längst in Jeans und T-Shirts zu sehen waren. Und noch keine hundert Jahre alt ist die Kleiderordnung für Frauen in Niederbayern, die Stoff bis nahe an den Hals, Stoff zumindest an den Oberarmen und Stoff über dem Knie verlangte. „Alle, deren Kleidung diesen Richtlinien nicht entspricht, müssen bei der Spendung der Heiligen Kommunion übergangen werden“, so war es 1927 an niederbayerischen Kirchentüren angeschlagen. Daneben hat die Kirche vor gemeinsamem Schwimmen von Männern und Frauen gewarnt. Als „heidnische Unsitte“ und „Rückfall in heidnische Unmoral“ hat das ein Bischof in der Landshuter Zeitung gegeißelt.
Heute sind es nicht selten Flüchtlingsfamilien, die den Töchtern den Schwimmunterricht mit Klassenkameraden verbieten. Das stößt vielerorts auf Unverständnis. Sollen Mädchen sich nicht genauso frei bewegen dürfen wie Jungen?
Auch am Kopftuch scheiden sich die Geister. Die einen meinen, es unbedingt tragen zu müssen, weil ausgerechnet Haare die Männer reizen sollen. Die anderen sehen im Kopftuch das moderne Sklaventum der Frau.
Und da gibt es tatsächlich einiges im Auftreten mancher Flüchtlinge bei uns, das sich mit unserem Bild vom gleichen Recht für Mann und Frau nicht vereinbaren lässt. Da sind die Frauen, die Tüten und Taschen schleppen, während die Männer sich einen Ruheplatz ergattern im Flüchtlingszelt. Und da sind die Männer, die ihren Tisch nicht aufräumen wollen, weil es ja dafür die Frauen gibt. Zum Glück gibt es auch die Gegenbeispiele: Den Mann, der den Rucksack schultert und das Kind in den Armen hält. Die Frau, die als erste in der Familie die fremde deutsche Sprache erlernt.
Bürgermeister, Landräte und viele ehrenamtliche Helfer und Helferinnen haben sich in den vergangenen Monaten dafür engagiert, dass Fremde hier ein schützendes Dach über dem Kopf und Essen bekommen. Dafür ein ganz großes Dankeschön. Viele sind dabei aber an ihre Grenzen gekommen und sie sprechen das auch offen aus. Dass sie sich dennoch weiter engagieren, dass sie dafür sorgen, dass bei uns kein Fremder Hunger leiden oder frieren muss, dafür ein besonders herzliches Vergelt‘s Gott.
Ich wünsche Ihnen ein gesegnetes Weihnachtsfest und ein gesundes neues Jahr.
Heinz Grunwald
Regierungspräsident