Kultur-Gottesdienst in der Dreieinigkeitskirche: "Kein Volk darf die Hände in den Schoß legen und auf Helden warten." - Foto: Robert Mehrl
Rottenburg - pm (11.11.20224) „Emil und die Detektive“ oder „Das Doppelte Lottchen“ sind sicherlich die bekanntesten Kinderbücher von Erich Kästner, der vor 50 Jahren verstarb und in diesem Jahr seinen 125. Geburtstag hatte. Doch vielen ist nicht bewusst, dass Kästner sich schon früh gegen die Nazi-Diktatur zu Wort gemeldet hatte und deshalb auch mit Berufsverbot belegt wurde.
Seine Bücher wurden am 10. Mai 1933 in Berlin verbrannt – in seinem Beisein und im Beisein von Goebbels. „Gegen Dekadenz und moralischen Verfall“ – mit diesem „Feuerspruch“ wurden Kästners Bücher verbrannt – wie die von vielen anderen Schriftstellern auch.
Im Rahmen eines Kultur-Gottesdienstes haben Pfarrerin Veronika Mavridis, Religionspädagogin Sandra Sesselmann und die Synodale Ruth Müller, MdL daran erinnert, wie schleichend das Gift der Nationalsozialisten, Unwahrheiten, Verleumdungen und Verschwörungstheorien Deutschland und die Welt in die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs führte. „Anlässlich des Jahrestags der Reichspogromnacht am 9. November 1938, die Kästner in Berlin erlebte, wollen wir als evangelische Kirche und Kirchenvorstand ein Zeichen setzen“, so Pfarrerin Veronika Mavridis.
Anhand von Schaubildern konnten die rund 100 Besucher in der Kirche auch sehen, dass in den Jahren 1923 bis 1933 die Bürgerinnen und Bürger in Rottenburg und Umgebung immer stärker für die NSDAP stimmten – der braune Balken wuchs mit jeder Wahl an und am Ende wählten neun von zehn Rottenburger die Nazis an die Macht.
Die drei Protagonistinnen hatten sich intensiv mit dem Leben und Wirken und Werken Erich Kästners auseinandergesetzt und verstanden es, die Zeitgeschichte in die Lebensgeschichte Kästners einzubinden und mit passenden Lesestellen aus seinen Büchern und Zitaten zu verstärken. Kästner war in der jungen Bundesrepublik ein stetiger Mahner, der aufrief, die Demokratie wachsam zu verteidigen und als Volk und Elite nie die Hände in den Schoß zu legen im Vertrauen darauf, dass andere die Helden sein werden.
Einen besonderen Glanzpunkt setzte die Münchner Opernsängerin Franziska Rabl, deren klarer Mezzosopran in der Kirche erklang. Sie hatte – begleitet von Franz Hawlatta am Klavier – vertonte Gedichte Kästners gefunden, die sie zwischen den Lesungstexten darbot. Im Lied „Große Zeiten“, das von Andreas N. Tarkmann vertont wurde, geht es darum, dass die Dummheit zur Epidemie wird und ein Volk „in geistiger Umnachtung versinkt“. Die Lieder handelten von Kriegsheimkehrern und Kriegsversehrten und am Ende von den Frauen, die entschieden, ihre Söhne, Brüder und Männer nicht mehr in den Krieg ziehen zu lassen. Andreas Tarkmann, Alexander Zemlinsky und Wolfgang Korngold, die die Musik zu den Gedichten komponiert hatten, waren allesamt Juden, die aufgrund der politischen Entwicklungen in die USA emigrieren mussten. So wurden an diesem Abend auch ihre Werke wieder lebendig. Und wenn Kästners langjährige Lebensgefährtin Lieselotte Enderle in einem Nachruf über ihren Erich sagte, dass er mit seinen Texten „Auf die Gegenwart in die Zukunft zielt“, so hätte man die Stimmung anlässlich der aktuellen politischen Entwicklungen in der Rottenburger Dreieinigkeitskirche an diesem besonderen Kulturabend nicht besser beschreiben können.
Im Anschluss an den Gottesdienst nutzten die Besucher die Gelegenheit, bei einem Glas Sekt die Schaubilder anzusehen und am Büchertisch der Rottenburger Buchhandlung in den Werken Erich Kästners zu blättern.